DS LÖTSCHBERG

Rettungsübung auf dem DS Lötschberg

Fällt ein Mensch ins Wasser, beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit und das schwierigste Manöver, das mit einem Dampfschiff gefahren werden kann. Wir waren bei einer Mann-über-Bord-Übung dabei.

Die Lötschberg will losfahren. Ungeduldig zieht sie an den Leinen, während sich die Dampfmaschine zum Aufwärmen langsam dreht. Endlich legt sie zwei Stunden vor der geplanten Abfahrt in Interlaken ab und zieht davon in Richtung Brienzersee. Stühle stehen auf den Tischen, das Deck wird feucht aufgenommen, es riecht streng nach Putzmittel. Die Crew trägt Freizeitkleider. Passagiere sind keine an Bord. So stammt das leise Platschen am Heck des Dampfschiffs zum Glück nicht von einem Menschen, der ins Wasser gefallen ist, sondern von der Boje «Wilmaa II». Sie wurde für die Rettungsübung über Bord geworfen.

Wettlauf gegen die Zeit

Fällt ein Mensch über Bord, steigt der Puls. Die Situation ist sofort lebensgefährlich. Schon der Schock des kalten Wassers kann zum Tod führen. Die Kleider saugen sich mit Wasser voll und ziehen nach unten. Der Körper kühlt rasch ab, gerade im oft kalten Brienzersee, die Muskeln werden starr, das Bewusstsein schwindet. Taucht der Körper bloss wenig unter, ist er im trüben Wasser nicht mehr zu sehen und verloren. Die Rettung hat jetzt Vorrang vor allen anderen Aufgaben. Die Crew gibt sich dafür drei bis vier Minuten Zeit.

Klare Anweisungen und Rollenverteilung

Die Dampfmaschine stoppt, die Crew kommt in Bewegung. Der Alarm «Mann über Bord» war auf dem ganzen Schiff über die Bordlautsprecher zu hören. Auf
der Aussenseite der Reling werden zwei Überbordleitern angeschraubt, die bis ins Wasser reichen. Jemand holt Sanitätsmaterial. Unter den Passagieren wird eine medizinisch ausgebildete Person gesucht. Der Kapitän gibt per Lautsprecher Anweisungen aus dem Steuerhaus. Die Lötschberg nähert sich der Boje rückwärts. So wird verhindert, dass «Wilmaa II» ins Schaufelrad gerät. Ein Motorschiff hingegen würde umdrehen und sich der Boje vorwärts nähern, damit sie nicht in die Schraube kommt.

Regelmässig wird der Ernstfall geübt

Mann-über-Bord ist eine von elf Sicherheitsrollen, die auf den Kursschiffen regelmässig geübt wird, zum Glück aber als Ernstfall selten passiert. «Seit ich vor sieben Jahren zur BLS Schifffahrt kam, musste kein scharfes Mann-über-Bord-Manöver gefahren werden», sagt René Anliker, der für den Betrieb der Kursschiffe auf dem Thuner- und dem Brienzersee verantwortlich ist. Weitere Manöver wie Feuer an Bord, Wassereinbruch oder Ruderschaden werden zwar jedes Jahr geübt, kommen in echt aber ebenfalls kaum vor. «Am häufigsten verzeichnen wir medizinische Notfälle», sagt Anliker. Ein bis zwei Mal pro Monat komme es vor, dass ein Passagier wegen Dehydrierung oder Hitzschlag medizinische Hilfe benötige.

Fingespitzengefühl ist gefragt

Im Umgang mit dem tonnenschweren Dampfschiff ist jetzt Fingerspitzengefühl gefragt. Daumen und Zeigefinger am Steuerhebel, die andere Hand am Sprachrohr, den Blick fest auf «Wilmaa II» geheftet, lenkt der Kapitän das Schiff auf die Boje zu. Die Regeln sind streng: Die Boje darf die Schiffswand nicht berühren. Das Schiff muss auf der Höhe der montierten Leitern neben der Boje stehen bleiben. Das Schaufelrad darf sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr drehen. Die Kunst dabei: Um das Schiff zu bremsen, muss das Schaufelrad in die Gegenrichtung gedreht werden. Passiert das zu spät, spült der Wasserschwall die Boje wieder weg vom Schiff. Deswegen gilt diese Rettung als schwierigstes Manöver, das mit einem Dampfschiff gefahren werden kann.

Ein seltener Ernstfall vor 17 Jahren

«Vor 17 Jahren habe ich mit dem Dampfschiff Lötschberg jemanden aus dem Brienzersee gerettet», erzählt Kapitän Beat Feuz. Ein Kajakfahrer war in Seenot geraten und musste eine Stunde lang im 10 Grad kalten Wasser ausharren. Stark unterkühlt wurde er gerettet und ins Spital gebracht. «Er hat zum Glück überlebt», sagt Feuz. «Deshalb ist es sehr wichtig, dass wir die Manöver üben, damit sie funktionieren und jeder weiss, was er zu tun hat.»

«Wilmaa II» ist gerettet

«Wilmaa II» wird über die Leitern an Bord gehoben. Der Adrenalinspiegel sinkt. Kurz vorher hat ein Matrose der Boje einen Rettungsring zugeworfen und sie zum Durchhalten angefeuert. Das sei sehr wichtig: Es komme vor, dass sich Verunfallte im Angesicht der nahenden Rettung in Sicherheit wähnen, entspannen und untergehen. Bald ist die Boje verstaut und die ersten Passagiere kommen für die Mittagsfahrt an Bord. Keiner ahnt, was sich an diesem Vormittag auf dem Dampfschiff abgespielt hat. Doch jeder spürt, dass er sich auf der Lötschberg sicher fühlen kann.

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